Ein Tanzfestival für alle

Ein Interview mit Kurator Rémy Fichet und Dramaturgin Anna Elisabeth Diepold
Friday 12.01.2024

Leipzig hat eine lange Tanztradition und eine der großen internationalen Ballettcompagnien. Warum gibt es mit "LEIPZIG TANZT!« erst jetzt ein Ballettfestival?

RÉMY FICHET Musik wurde in Leipzig immer ein großer Stellenwert eingeräumt, insbesondere nach dem Mauerfall. Da lief der Tanz eher nebenher. Das hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Auch seitens der Politik hat man erkannt, wie wichtig diese Kunstform ist und dass der Tanz selbstverständlich zur Musikstadt gehört.

 

"LEIPZIG TANZT!« ist ein sehr offener, einladender Titel. Was verbirgt sich dahinter?

FICHET Dahinter steckt, was für uns selbstverständlich ist: dass der Tanz zu dieser Stadt gehört. Wir wollen den Tanz gemeinsam feiern!

ANNA ELISABETH DIEPOLD Das Festival ist eine Einladung, auch an unser Publikum: Wir können Tanz in der Stadt erleben, wir können Teil dieses Programms sein. Das zeigt sich zum Beispiel im Rahmenprogramm. Wir vom Leipziger Ballett haben das in den vergangenen Jahren schon mit dem Welttanztag vorbereitet.

 

Inwiefern?

DIEPOLD Am Welttanztag veranstalten wir seit 2011 jährlich ein großes Tanzfest auf dem Augustusplatz, wo Tanzgruppen, Vereine, Schulen aus ganz Leipzig zusammenkommen und gemeinsam den Tanz feiern. Abends gibt es Vorstellungen des Leipziger Balletts oder Gastspiele.

FICHET Die Idee dahinter ist, dem Tanz einen demokratischen Raum zu geben, ihn wirklich offen für alle tanzenden Menschen zu machen, gleich ob professionell oder nicht.

Der Untertitel ist relativ konkret: Internationales Ballett-Festival. Warum haben Sie nicht den viel offeneren Begriff Tanztheater gewählt?

FICHET Zum einen wollen wir uns klar vom Festival euro-scene unterscheiden, das seit uber 30 Jahren mit dem Schwerpunkt Tanztheater und Zeitgenössischer Tanz arbeitet. Das ist eine wichtige Institution der Stadt Leipzig, die wir unterstützen und mit der wir zusammenarbeiten wollen, da soll keine Konkurrenz entstehen. Die Ursprungsidee für »LEIPZIG TANZT!« war zum anderen, die große Bandbreite des Balletts zu zeigen und sie zusammenzuführen - auf höchstem Niveau. Wir fragen: Was ist Ballett?

DIEPOLD Vor diesem Hintergrund war es mir auch ganz wichtig, den Begriff zu behalten, ihn zu schärfen, weiterzuentwickeln.

FICHET Es gibt sehr viele Vorstellungen davon, was Ballett ist, wie es auszusehen hat. Wir sind eher Verfechter eines offenen Begriffs. Ballett ist viel mehr als eine starre Technik! Es hat sich stark entwickelt - weg von den traditionellen Handlungsballetten, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und die man heute noch fast so tanzt wie damals, hin zu offeneren Formen.

 

Eingeladen sind große Handlungsballette und Tanztheaterabende, dazu gibt es die Ballettgala. Was hält das Programm zusammen?

FICHET Unser roter Faden ist zum einen, dass wir Geschichten mit den Mitteln der Kunstform Ballett erzählen. Zum anderen ist da die Verbindung zur Musik und damit zur Musikstadt Leipzig. Ballett mit Live-Orchesterbegleitung ist ja heute keine Selbstverständlichkeit mehr.

DIEPOLD Geschichten zu erzählen findet sich in allen Stücken wieder, auch in den eher abstrakten. In gewisser Weise auch in der Gala, die keine Nummernrevue wird, sondern die man als Gang durch die Tanzgeschichte lesen kann.

 

Richtet sich das Festival eigentlich eher an ein internationales Publikum oder an die Stadt Leipzig?

FICHET Beides. Meines Erachtens ist es der Anspruch aller Musikstadt-Leipzig-Festivals, dass wir Menschen mit einem attraktiven Programm nach Leipzig einladen, sie dann aber auch die Stadt erkunden. Gleichzeitig ist es auch ein Festival für die Leipziger. Wir haben hier ein wahnsinnig engagiertes, interessiertes, kulturell gebildetes Publikum, das auch für Gäste, die idealerweise aus der ganzen Welt kommen, Teil einer schönen und positiven Erfahrung ist.

»Es ist so wichtig für unsere Gesellschaft, dass Tanz existiert.« 

Rémy Fichet

Wie wichtig ist die Einbindung von zwei großen Produktionen des Leipziger Balletts ins Festival?

FICHET Die Compagnie ist fester Bestandteil der Stadt Leipzig, und wenn wir die Stadt in einem Tanzfestival präsentieren wollen, kommt man an ihr nicht vorbei. Es ist der Versuch, unserem internationalen Publikum, das von »Peer Gynt« angelockt wird oder von der Gala, auch die Arbeit unserer Compagnie zu zeigen. Sie tanzt auf sehr hohem Niveau. Zugleich liegt Leipzig ein bisschen abseits der großen Tanzmetropolen. Viele in der Tanzwelt wissen gar nicht, welchen Schatz wir hier haben!

DIEPOLD Wir sind eine der größten Compagnien in Deutschland. Es ist ein großer Luxus, dass sich eine Stadt noch ein so großes Ensemble leistet. Entsprechend ist es ein Zeichen von Selbstbewusstsein zu sagen: Wir sind Teil dieses Festivals und zeigen eine Qualität, die hoffentlich dazu beiträgt, dass die Menschen öfter nach Leipzig kommen.

 

Neben Gastspielen bietet das Festival auch Diskussionen und Vermittlungsangebote. Reicht es nicht, spannenden Tanz zu zeigen?

DIEPOLD Natürlich steht mitreißender Tanz immer für sich. Gleichzeitig ist es wichtig, sich über Tanz zu verständigen und die Frage zu stellen, was Ballett kann, darf, soll. Wo geht die Kunstform hin? Das wird in den Diskussionsrunden passieren. Es wird aber auch die Möglichkeit geben, sich selbst zur Musik zu bewegen. Selbst wenn das vielleicht nie so aussehen wird wie bei den Menschen auf der Bühne. Deshalb ist für mich das Vermittlungsangebot des Rahmenprogramms so wichtig.

 

Wenn Sie ein Jahr vorausdenken - was wird von »LEIPZIG TANZT!« bestenfalls bleiben?

FICHET Ich hoffe, es bestätigt sich die Begeisterung für den Tanz, die uns weiter begleiten wird. Dass wir merken, dass es ohne Tanz nicht geht. Dass man im Zuschauerraum sitzt und Sachen erlebt, die in einem Emotionen auslosen, und dass das die Brücke schlagt zur nächsten Spielzeit, wo wir mit der Neuausrichtung der Compagnie leidenschaftliche Geschichten erzählen wollen. Manchmal besteht die Gefahr, dass man Kultur und Livetheater insgesamt als wenig relevant ansieht. Aber es ist so wichtig für unsere Gesellschaft, dass Tanz existiert, und ich hoffe, dass das Festival dieses Gefühl verstärkt.

DIEPOLD Ich werde während des Festivals hoffentlich mit so vielen Menschen über Tanz gesprochen haben, dass mir keiner mehr sagen kann, dass der Tanz flüchtig ist. Sondern dass in all den Gesprächen Gedanken und Ideen entstehen, die bleiben, und der Tanz auf vielen Ebenen greifbar geworden ist.