Das Wertvollste, das wir haben

Sofia Nappi im Gespräch über ihren kreativen Prozess und das »Duende«
Anna Elisabeth Diepold | Friday 24.01.2025
Dein Stück trägt den Titel »Duende«, inspiriert durch das Konzept von Federico García Lorca. Wie bist du mit seiner Arbeit und dem »Duende« vertraut geworden?

Wenn ich für Kreationen reise, habe ich immer das Buch »The Creative Act« von Rick Rubin bei mir. Ich nutze es zur Reflexion, um mich immer wieder in einen Zustand des Zuhörens zurückzubringen, meine Wahrnehmungsfilter zu reinigen und mich auf die, wie er es nennt, »Quelle« zu besinnen. Die Quelle kann Gott sein, deine Intuition oder eine kosmische Energiequelle – woran auch immer du glaubst, um Impulse zu erhalten, die deine Kunstform beeinflussen. Ich brauche diese Erinnerungen, um verwurzelt zu bleiben. In meinen Arbeiten ist die Idee dieser Quelle immer präsent. Für »Duende« erforsche ich etwas, das ich die »Kreatur« nenne: was uns als Charakter ausmacht, mit unseren individuellen Hintergründen und Sehnsüchten. Ich habe also nach kreativen Prozessen und Ideen gesucht, nach unterschiedlichen Methoden, Denkschulen und Glaubenssätzen. Dabei bin ich auf Lorca gestoßen und wusste sofort: »Duende« ist diese Kreatur, ist das Erdverbundene, die viszerale Kraft.

Ich habe »Duende« gespürt, als ich das erste Mal Musik von Clara Schumann gehört habe. Ich spüre es in der Musik von Henry Purcell, die meine erste Inspiration für diese Arbeit war. In Claras Musik gibt es für mich ein Zusammenspiel zwischen dem, was ich als Licht wahrnehme – etwas sehr Strukturelles, Repräsentatives – und gleichzeitig einer Dunkelheit, einer Tiefe der Empfindung. Das alles hat mich »Duende« fühlen lassen: eine Arbeit über das kreative Schaffen aus den Tiefen des menschlichen Empfindens.

Für mich zeigt sich das Spiel zwischen Licht und Dunkel auch sehr in der Zusammenarbeit mit Judith für das Kostüm. Wie hat sich euer Konzept entwickelt?

Ich habe zu einer Zeitspanne von etwa 200 Jahren recherchiert und bei Künstlerinnen und Künstlern begonnen, die ich sehr schätze, wie Goya, Klimt oder auch Frida Kahlo – eine Künstlerin, deren Arbeit für mich im Spannungsfeld ihres intensiven, rauen Lebens und der Adaption ihres Werks in der Popkultur steht. Immer auf der Suche nach dem Spiel zwischen Dunkelheit und Licht haben mich Elemente wie die Mimik der Bauern, die Rohheit des Lebens, die Goya darstellt, besonders fasziniert. Die Lebendigkeit, die sich zwischen der visuell wahrnehmbaren Dunkelheit verbirgt, finde ich sehr einnehmend.

Perspektiven, die erweitert werden, sobald du mit den Tänzer*innen im Studio stehst. Kannst du deine Art des kreativen Arbeitens beschreiben?

Im Umgang mit Licht ist Caravaggio besonders inspirierend für mich: wie wir über die Aneignung einer Form und die Plastizität einer Form sprechen, indem wir die Gesten in seinen Bildern beobachten. Je mehr ich diese Bilder sah, desto mehr wollte ich sie durchdringen. Ich wollte wissen, wie ich mich fühle, wenn ich diese Art des Bewusstseins annehme, diese kreativen Prozesse wahrnehme und in meinem eigenen Werk widerspiegeln lasse. Die Recherche kam also aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zusammen.

Ich habe keine allgemeingültige Formel. Jede Gruppe, auf die ich treffe, ist anders, und auch wenn ich mit meiner eigenen Company arbeite, ist es anders. Aber es geht immer um Wachstum. Wie trägt die Individualität der Tänzer*innen dazu bei, dass meine Sprache wachsen kann? Und auch da: Jede Gruppe ist anders. Oft will ich nicht einmal planen. Ich komme an und sehe, was gebraucht wird, was sich richtig anfühlt.

Für die Tänzer*innen des Leipziger Balletts hat es sich richtig angefühlt, mir viel Zeit zu nehmen. Zeit, die wir vielleicht auf dem Papier gar nicht hatten. Aber ich wollte die Gruppe in meine Art der Bewegungsrecherche einführen, sie mit diesem Gefühl vertraut machen. Ihnen die Erfahrung »Ah, das ist anders« ermöglichen. Das habe ich durch Improvisationsaufgaben für die Gruppe gestaltet. Erst gegen Ende der ersten Proben habe ich angefangen, eine klare Form und Bewegung einzuführen. Dadurch entstanden erste synchrone Momente, mit ihnen und durch sie. Ich wollte, dass das Gefühl von Verbundenheit als Gruppe im Vordergrund steht.

Im Laufe der ersten vollen Probenwoche hatte ich dann das Gefühl, dass sie bereit waren für das, was ich mit ihnen vorhabe. Gerade arbeiten wir an einer Aufgabe, die mit ihrer Stärke, dem Ballett, spielt. Wir suchen eine Ballettfantasie in der Kreatur, um den Moment des Aufbrechens von Gewohnheiten zu erreichen. Das »Duende« spielt jetzt also mit der Ballettfantasie und kreiert so nicht nur Soli, sondern auch Veränderung. Das ist wie ein Schlüssel in die Zukunft.

Vielleicht könnte man meine Methode dahingehend beschreiben, dass ich versuche, einen Klebstoff zu schaffen, der sich in viele Richtungen ausdehnen kann und Dinge, die vielleicht vorher nicht verbunden waren, miteinander verbindet.

Was erhoffst du dir, dass das Publikum durch »Duende« erfahren kann?

In der Erfahrung liegt schon der Schlüssel. Ich denke, dass all die vielen Informationen, die täglich auf uns einprasseln, die schrecklichen Dinge, die auf der Welt passieren – das macht etwas mit der Menschheit. Es lässt uns den Sinn von Erlebnissen und Tragödien hinterfragen.

Ich möchte, dass das Publikum fühlt. Im »Duende« geht es um starke Emotionen in beide Richtungen. Es geht um Empfangen und Geben zugleich, und ich denke, dass uns die Kunst daran erinnern soll, dass wir lebende und denkende Wesen sind, die fühlen müssen. Wie ist es, im Nebel der Informationen zu fühlen?

Ich glaube, es ist essenziell, diese Fähigkeit nicht zu verlieren, das »Duende« nicht zu verlieren. Es ist das Wertvollste, das wir haben, weil es über uns als Individuen und als Gemeinschaft spricht.

  • Zur Person

    Sofia Nappi ist Choreographin und künstlerische Leiterin von KOMOCO, einer international renommierten, zeitgenössischen Tanzkompanie mit Sitz in Italien. Ihre Ausbildung absolvierte sie an der Alvin Ailey American Dance Theatre School in New York, geprägt durch die Zusammenarbeit mit der Hofesh Shechter Company und die Gaga-Bewegungssprache Ohad Naharins. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, darunter beim Internationalen Choreographie- Wettbewerb Hannover und der Rotterdam International Duet Choreography Competition. Als Choreographin schuf sie Werke für führende Kompanien wie das Nationaltheater Mannheim, die Staatsoper Hannover, Scottish Dance Theatre, Introdans und Nederlands Dans Theater 2.