Welche Begriffe kommen euch als erstes in den Sinn, wenn ihr an die Musik von Komponistin Thea Musgrave denkt?
ILARIA LANZINO Perkussiv, dramatisch, folkloristisch, lebhaft in der Farbgebung und teilweise schrill.
DIRK BECKER Humorvoll, mit exzellenten Chorstellen und starken Frauenparts.
Ihre Oper »Mary, Queen of Scots« wurde 1977 im King’s Theatre Edinburgh mit Erfolg uraufgeführt. Liebe Ilaria, kannst du uns die Handlung in drei Sätzen zusammenfassen?
IL Nach 13 Jahren in Frankreich muss Mary ihre Rückkehr in ihre Heimat Schottland antreten, um dort das Amt der Königin anzunehmen. Doch während ihrer Abwesenheit hat sich Schottland in ein von Intrigen und Machtspielen geprägtes Land verwandelt, in dem Marys Bruder James und die adligen Lords, auch bekannt als »Die Wölfe«, um die Vorherrschaft kämpfen. Die Situation wird noch komplizierter, da sie als Frau
die Herrschaft übernehmen soll. Mary wird vor die Herausforderung gestellt, sich in diesem undurchsichtigen Umfeld zu behaupten und zu lernen, wie sie ihre Macht sichern kann. Sind doch vier Sätze geworden …
Wie kann man Marys Situation beschreiben, wenn sie aus Frankreich nach Schottland kommt, um die Königskrone zu übernehmen?
IL Mary wuchs in Frankreich auf, geprägt von Liberalität, Kultur, Sprachen und Musik. Diese Realität ist ihr vertraut. Sie kehrt voller Hoffnung nach Schottland zurück, im Glauben, dass sie all das Gelernte nun in ihrer Herrschaft anwenden könne. Sie steht jedoch etwas ratlos da, als sie die Wölfe und ihre Machenschaften kennenlernt. Das Ganze verläuft nicht so nach ihrem Plan.
Gibt es einen Charakter, den man zu Beginn unterschätzt?
IL Darnley, Marys zweiten Ehemann. Man könnte anfangs denken, er sei der einfältige Prinz Charming. Doch bald wird klar, dass er sogar bereit ist, das Wohl der Beziehung zu Mary zu opfern, um seine eigenen Ziele zu verfolgen.
Und am Ende der Oper?
IL Das wird noch nicht verraten. Ich kann nur sagen: Ich will diese Frau nicht idealisieren. Laut der Vorlage bleibt sie rein, wohlwollend, in Richtung: Opfer der Verschwörungen, aber …
Gemeinsam habt ihr für ein paar Tage die Werkstätten in der Dessauer Straße unsicher gemacht und seid über Tische geklettert – warum Tische?
IL Der Tisch verkörpert eine Bühne politischer Macht. Er kann als Ort dienen, an dem friedliche Diskussionen und Einigungen stattfinden, oder aber als Plattform genutzt werden, um dominante Ansprüche zu erheben. Unter der Tischdecke könnten Geheimnisse verborgen liegen, während das Ausdehnen des Tisches dazu dienen könnte, räumliche Distanz zwischen den Parteien zu schaffen.
Kannst du uns eine Tisch-Szene verraten? Oder zwei?
IL Die Eröffnungsszene stellt den ersten Machtkonflikt zwischen Cardinal Beaton und Lord James dar. Anfangs wirkt ihre Diskussion zwar angespannt, aber noch einigermaßen höflich, als sie über den zukünftigen Einfluss auf die kommende Königin verhandeln. Diese Debatte dient dazu, ihre eigenen Machtansprüche zu sichern, während Mary offiziell zwar regiert, aber im Hintergrund weiterhin durch sie die Fäden gezogen werden. Im Laufe des Gesprächs verliert der Tisch allmählich seine Funktion als Diskussionsort, die Spannungen steigen, Vorwürfe werden laut und der Ton schärfer. Einige Lords verbünden sich mit James, gegen Beaton, lassen den Tisch um die eigene Achse rotieren, drehen sozusagen den Ausgang des Streites, sodass James vom Verlierer zum Sieger wird. Unsere Installation nutzt die Tische auf mehreren Ebenen – sowohl realistisch als auch symbolisch. Die ineinander verwobene Holzstruktur spiegelt das Machtsystem der Lords und ihren rücksichtslosen Kampf um die Spitze wider. Die vielfältige Verwendung der Tische – sei es als Bett, Kletterhilfe zum Thron, Grab, Versteck oder Treffpunkt für Verschwörungen unter dem Tisch – verdeutlicht die Wandlungsfähigkeit dieser Objekte und ihre symbolische Bedeutung im Stück. Alle Szenen sind Tisch-Szenen, nur nicht wie man es erwarten würde.
Wie unterscheidet sich dein, euer Arbeiten im Vergleich zum »normalen« Prozess? Kannst du uns vom Auftrag bis heute mitnehmen …
DB Was ist in einem künstlerischen Prozess schon »normal« (lacht). Aber ja, wir hatten zu Beginn Schwierigkeiten, weil wir in Verboten gedacht hatten. Die Gedanken kreisten, und, wie oft in diesem Stadium, warfen wir uns im
Team Assoziationsbilder zu. Um diese aber auf die Bühne zu bringen, hieß es immer: bauen lassen. Ilaria brachte dann den richtigen Impuls, über Tische der Macht nachzudenken, und schon ging es schnell. Machtspiele beginnen ja schon früh, am Spieltisch, am Küchentisch. Da half es dem Artus auch nicht, einen runden Tisch bauen zu lassen. Interessanterweise haben wir auch keinen runden Tisch im Bühnenbild, fällt mir gerade auf.
IL Normalerweise würde das Regieteam für die Bauprobe einen vollständigen Entwurf des Bühnenbildes liefern. Unsere nachhaltige Installation soll jedoch auf bereits vorhandenen Tischen in unterschiedlichen Größen und Formen basieren, es ist also sinnlos, einen zu genauen Entwurf zu machen. Zu Beginn der Bauprobe war nämlich noch unklar, wie viele Tische tatsächlich zur Verfügung stehen würden. Daher war unser Entwurf eher als grobe »Richtung« gedacht. Die endgültige Gestaltung haben wir dann vor Ort in den Werkstätten entwickelt, nachdem wir wussten, wieviel Material uns zur Verfügung stand. Es war und bleibt ein work in progress.
Machtspiele beginnen ja schon früh, am Spieltisch, am Küchentisch.
Was habt ihr bei den Proben im Juni herausgefunden? Warum waren diese vorbereitenden Proben wichtig?
IL Nachdem wir uns alle verfügbaren Tische angesehen hatten, fragten wir uns: »Was machen wir jetzt?« Jeder einzelne von ihnen schien eine eigene Geschichte zu haben, wurde aus verschiedenen Gründen
erschaffen. Wir waren auf irgendeine Weise mit jedem von ihnen verbunden. Ihre Formen und Farben, die Einzigartigkeit jedes Tisches, faszinierten uns. Aber dann wurde uns bewusst, dass wir etwas mutiger denken mussten. Wir haben unseren Respekt vor ihnen beiseite gelegt, haben Beine und Tischplatten abgenommen und sie in neue Formen gebracht, die unserer Geschichte am besten entsprachen. Es fühlte sich fast so an, wie wenn man Kindheitserinnerungen wiederaufleben lässt, wo man spielt, ausprobiert, bastelt und kreiert, nur halt mit 2 m großen Elementen. Es hat unglaublich viel Spaß gemacht.
Hast du für uns Tisch-Kletter-Tipps?
IL Nicht zu hastig klettern, sondern erst mal den Neigungswinkel der Tischplatten kennenlernen, herausfinden, wie der Halt am besten funktioniert und Geduld haben. Doch nach einem Tag konnte ich bereits darauf springen wie eine Grille.
Was mussten die Tische zum Casting mitbringen, um von euch à la »Germany’s Next Tisch-Modell« auserwählt zu werden?
DB Die Begehung des Möbelfundus hat uns sehr in der Findung unseres Erzählansatzes geholfen. Da standen sie alle über-, unter- und durcheinander. Sie ergaben schon dort ein eigenes Bühnenbild. Wir haben uns diejenigen mit dem größten Charakter ausgesucht und die, die schon lange auf ihren nächsten großen Auftritt gewartet haben.
»Mary, Queen of Scots« ist eine »klimaneutrale Produktion«. Was heißt das, wie kann das gehen?
DB Jeder / Jede, der / die sich mit Produktionsprozessen beschäftigt, muss gestehen, dass »klimaneutral« nicht zu erreichen ist. Also alles Greenwashing oder Fake? NEIN. Wir im Opernhaus sind uns einig, dass wir eine Produktion auf die Bühne stellen wollen, die möglichst wenig CO2 ausstößt. Wir üben uns im neuen Denken, Re- und Upcycling, und jeder Schritt wird dabei dokumentiert, bilanziert und am Ende ausgewertet. Über Nachbesprechungen und Auswertungen werden wir wiederum Erfahrungen machen, die uns in unseren »normalen« Produktionen helfen werden, noch besser im Umgang mit Ressourcen zu sein. Und wir haben jetzt schon viel dazu gelernt, Prozesse verändert und manche Denkverbote aufgehoben.
Wie werden die Kostüme ins Opernhaus transportiert?
DB Nicht alle, aber viele werden mit einem Lastenrad ins Haus kommen. Wir möchten verschiedene Wege ausprobieren. Nicht nur um unsere Bilanz für das Stück zu verbessern.
Gibt es einen Tisch in deinem Leben, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist oder von Bedeutung war? Und warum?
IL Ich war gerade in Wien eingezogen und brauchte unbedingt einen Tisch, um zu Hause zu lernen. Ich hatte einen bei Ebay-Kleinanzeigen gefunden. Er wog bestimmt mehr als ich. Da ich kein Auto und kein Geld für ein Taxi hatte, habe ich ihn den ganzen Weg nach Hause allein transportiert. Danach waren wir Freunde. Es war unser kleines Jugend-Abenteuer.
DB Ich habe zwei Schwestern. Zu Hause hatten sie ein Zimmer gemeinsam. Ich hatte ein eigenes, kleineres Zimmer. In diesem stand aber auch der Schreibtisch meines Vaters. Ich habe ihn nie an diesem Schreibtisch arbeiten sehen, dafür saß ich oft daran.
Das Interview führte Marlene Hahn.