Im herbstlichen Leipzig treffen sich Bühnen- und Kostümbildner Thomas Mika und Dramaturgin Anna Elisabeth Diepold in der malerischen Röseling-Filiale in der Gottschedstraße, um über Arbeit, Struktur, Chaos und Kreativität und natürlich über das Leipziger Ballett zu sprechen.
Verzehrtipp: Neben einem Heißgetränk macht sich das Mascarpone-Heidelbeer-Törtchen vorzüglich.
AD: Wir sitzen hier, total idyllisch. Nicht bei Kaffee, sondern mit einem Tee. Bist du ein Tee-Mensch, Thomas Mika?
TM: Ich trainiere mir an, ein Tee-Mensch zu sein, weil ich weniger Kaffee trinken möchte.
AD: Also wäre dir ein Kaffee lieber gewesen?
TM: Ach nein, das stimmt eigentlich nicht. Tatsächlich mag ich Tee gerne.
AD: Und was hast du dir ausgesucht?
TM: Moringa Garten, den trinkt meine Mama immer.
AD: Da ist die Mama ja fast mit dabei, das ist doch schön. Du bist in der Spielzeit 2024/25, provokativ gesagt, ein Serientäter für das Leipziger Ballett. Mit »Romeo und Julia« und »Mondprinzessin« arbeitest du an zwei wahnsinnig intensiven Geschichten, die irgendwie etwas miteinander zu tun haben und irgendwie auch gar nichts. Du machst Bühne, du machst Kostüme: Wie behältst du den Überblick?
TM: Für mich sind das zwei komplett unterschiedliche Geschichten, die ich sehr gut voneinander trennen kann. Die Produktionen unterscheiden sich auch sehr von der Herangehensweise an die Stücke selber, aber auch in der jeweiligen Ästhetik, die gewünscht wird. In meinem Kopf ist das eigentlich relativ gut sortiert, sodass ich es nicht verwechsle.
AD: Es scheint dir leichtzufallen, den Überblick zu behalten. Ist das etwas, das dir schon in die Wiege gelegt wurde, oder etwas, das du dir in deinem Arbeitsleben erarbeitet hast, so strukturiert zu sein?
TM: Ne, ich war schon immer so. Es ist natürlich ein Segen, so viele Stücke bewältigen zu können. Nicht nur an einem Haus, sondern an vielen und mit verschiedenen Gemütern. Die meisten Leute sind immer dankbar, dass ich so strukturiert bin. Das ist einfach auch dem geschuldet, dass ich, würde ich nicht so strukturiert arbeiten, das Gefühl hätte, die Sache würde komplett aus dem Ruder laufen. (lacht)
AD: Das entspricht gar nicht diesem Klischee von kreativen Menschen, die künstlerisch arbeiten: Das sind total chaotische, wilde Geschöpfe, die sich nicht zügeln können. Trotzdem ist deine Arbeit hochkreativ. Das ist für dich also kein treffendes Klischee, kein Widerspruch?
TM: Nicht wirklich. Ich habe dieses kreative Chaos immer im Kopf. Das kommuniziere ich nur nicht nach außen hin, sondern mache das mit mir selber aus. Und ich habe es tatsächlich geschafft, in all den Jahren nicht daran zu verzweifeln, schließlich ist es ja manchmal so, dass Abgaben näher rücken und man irgendwie immer noch keinen Zugriff zu einem Thema oder einer Ästhetik oder auch zu den Choreographinnen gefunden hat. Oder es gibt zu wenige Informationen, um etwas zu machen. Und da habe ich mit den Jahren gelernt, auf mich zu vertrauen. Zu wissen, wenn das Richtige da ist, dann kommt es um die Ecke.
AD: Kannst du deinen Arbeitsprozess beschreiben, also wie du das Chaos sortierst? Bist du ein Listen-/Aufschreib-/Mood-Board-Mensch?
TM: Hm, Mood-Boards höchstens so für erste Gespräche, aber ich brauche das für mich selber nicht. Ich bin kein Listen-Mensch, ich schreibe mir nie was auf, mache mir keine Skizzen...
AD: …du bist ein Wunderkind!
TM: Ach nein, für mich ist es ganz wichtig, tatsächlich Zeit zu haben. Das bedeutet jetzt nicht, dass es über Monate Fokus sein muss. Wenn ich zum Beispiel an »Romeo und Julia« denke und mir die Musik anhöre, dann gibt es eine vorgegebene Geschichte, so dass ich so ungefähr weiß, wo die Reise hingehen soll und welche Ästhetik gewünscht ist. Dann schaffe ich es immer relativ schnell, ein Konzept zu entwickeln. Das war tatsächlich schon immer so, wenn ich so darüber nachdenke. Ich habe eigentlich Regie, Opernregie, studiert und als ich mich beworben habe, musste ich Konzepte vorbereiten. Da waren bei mir damals »Die Zauberflöte« und »Orpheus und Eurydike« vorgegeben und »Tristan und Isolde« hatte ich mir freiwillig ausgesucht, genau. Und bevor ich überhaupt an die Arbeit gegangen bin, hatte ich Bilder vor Augen, wie die ganze Geschichte aussieht. Das greift sogar noch weiter zurück in meine Kindheit, in die Malschule – da wurden immer Geschichten vorgelesen und die wurden dann gemalt. Und das habe ich mir irgendwie so ein bisschen beibehalten.
AD: Dieses Schulkonzept hätte mich in die Verzweiflung getrieben.
TM: Ich habe einfach ein ganz ausgeprägtes räumliches Denken.
AD: Bist du dann auch ein visueller Lerntyp? Kannst du dir Dinge merken, wenn du sie gesehen hast?
TM: Ja schon. Ich konnte es oft so zuordnen, wusste immer genau, auf welchen Seiten was steht. Zwar nicht wirklich was und was es zu bedeuten hatte, aber wo auf der Seite es stand wusste ich. Sprich, ich war relativ schlecht in der Schule.
AD: Ist keine Schande.
TM: Nee, auf gar keinen Fall!
AD: Ich war sehr gut in der Schule, das ist auch keine Schande, aber es sagt überhaupt nichts aus.
TM: Wir haben es ja beide ins Theater geschafft. Da ist Platz für alle.
AD: Wann kam dann der Punkt von: »Okay, ich bin vielleicht eher Kostüm- und Bühnenbildner und nicht so sehr Opernregisseur?«
TM: Ich würde nicht sagen, dass ich das Andere gar nicht bin. Ich habe es nicht wirklich weiterverfolgt, auch weil ich als Kostümbildner relativ schnell erfolgreich war. In der Mitte des Studiums habe ich meinen ersten Kostümentwurf gemacht. Das kam spontan und ich habe nur gesagt: »Ach warte, dann zeichne und mach ich dir das schnell.« Und das hat dem Choreographen so gut gefallen, dass er mich als Ausstatter gleich mitgenommen hat ans Staatsballett Berlin. Von da an ging es schnell, die nächsten Aufträge kamen rein. Ich habe mein Studium als Regisseur abgeschlossen, aber ich sah gar nicht die Not, damit mein Geld zu verdienen. Mittlerweile habe ich wieder mehr Interesse. Nicht weil es nicht gut läuft, sondern weil ich meine Perspektive wieder erweitern möchte. Ich bin seit 2006 als Ausstatter tätig und mein Job macht mir Freude. Aber ich habe einen Anspruch, mich auch selber ständig weiterzuentwickeln.
AD: War Opernregisseur dein Kindheitstraumberuf?
TM: Also eigentlich wollte ich entweder Architekt oder Musiker werden.
AD: Da ist Opernregisseur ziemlich genau die Konsequenz davon, eigentlich.
TM: Ja, man kann die Musik und das Räumliche zusammenbringen. Selbst bei ganz abstrakten Stücken, bei denen kaum Vorgaben da sind, lasse ich mich von Musik treiben. Dann bin ich vielleicht in einer Brahms- oder Mahler-Phase und höre diese Musik und beginne zu entwerfen. Im Flow treibt mich die Musik.
AD: Mit »Romeo« haben wir eine Musik, die ins Herz geht. Es ist die Liebesgeschichte schlechthin, aus Gründen, die man in jeder Zeit neu hinterfragen kann: Wie lesen wir die Geschichte heute, vor 50 Jahren, in 50 Jahren. Hast du Respekt davor, sobald es losgeht? Oder bist du entspannt und gehst in deinen Prozess?
TM: Das ist jetzt das dritte Mal, dass ich »Romeo« ausstatte und auch das dritte Mal mit einem ganz neuen Ansatz. Die Musik bleibt immer das Grundgerüst. Die erste Ausstattung war für die Fassung von John Cranko, also ganz klassisch. Das bedeutet für mich, so wie die Musik von Prokofjew konzipiert ist, gefühlt alle fünf Minuten einen Szenenwechsel, es ist aber keine Musik dafür eingeplant. Das ist immer knapp, da waren die Möglichkeiten begrenzt. Und das finde ich schade, weil es für mich gegen die Musik und den Fluss der Musik geht. Die Musik ist narrativ und ich finde es schwierig diesen Fluss zu unterbrechen. Für die zweite Ausstattung, die ich gemacht habe, habe ich genau das zum Konzept gemacht. Und jetzt mit Lauren finde ich eine Mischung aus diesen beiden Ideen. Wir zeigen verschiedene Räumlichkeiten und lassen das Opernhaus diese Geschichte erzählen. Als große Liebesgeschichte atmet »Romeo und Julia« in allen Theaterwänden mit.
AD: Theater sind natürlich auch die Orte von viel Liebe, viel Drama – vor und hinter den Kulissen. Mit »Mondprinzessin« haben wir auch eine sehr alte Liebesgeschichte auf dem Spielplan, die aus einer anderen Kultur kommt. Was für eine Geschichte ist »Mondprinzessin« für dich?
TM: Ich weiß gar nicht, ob das für mich eine Liebesgeschichte ist. Klar gibt es den Kaiser und diese ganzen Brautbewerber.
AD: Für mich ist es auch eher eine Liebesgeschichte zwischen den Eltern und der Prinzessin.
TM: Ich persönlich finde die Prinzessin so fremd, als Figur, dass sie für mich eher eine Projektionsfläche ist. Sowohl für die Eltern voller Liebe, oder eben den Kaiser oder die Werber. Sie ist wirklich dieses Sinnbild des Mondes. Deswegen geht sie am Ende auch wie der Mond auf und erleuchtet. Und die Menschen bleiben zurück mit den Sehnsüchten und blicken hinauf zum Mond. Ich glaube, das ist eher eine Selbstreflektion oder vielleicht auch die Suche nach einem Projektionsbild für die Liebe, die man vielleicht für jemand anderen empfindet und wo man seine Liebe hingeben möchte.
AD: Das Märchen ist natürlich auch sehr verknüpft mit der Kultur in Japan, mit der Art und Weise, wie Geschichte erzählt wird. Wie Märchen erzählt werden und Geschichte gestaltet wird, ist immer auch eine kollektive Erfahrung.
TM: Das Märchen ist in unserem Kulturkreis nicht sonderlich bekannt. Mein Anspruch war es, das Märchen ins heutige zu transportieren und gleichzeitig eine Tradition zu wahren. Auf den ersten Blick wirkt der Bühnenraum nicht spektakulär, er entsteht im Zweidimensionalen, aber das besondere geschieht durch gezielte Schattenwürfe.
AD: Ich finde den Raum sehr spektakulär. Er bringt für mich so eine Mystik, die mich dabei sein lassen will. Und das ist für mich im Tanz und in Geschichten so spannend, dass man den Menschen, den Figuren folgen möchte. Ob das jetzt ein abstrakteres Stück ist oder eine Narration, spielt erstmal eine untergeordnete Rolle.
TM: Das Ballett ist für mich einfach diese große Kunstform für abstrakte Geschichten - wenn das Publikum sich darauf einlässt. Ich finde aber auch, dass im Ballett viel zu wenige Geschichten erzählt werden, und es oft sehr verkopft wird und man sich fragen muss: »Hab ich das jetzt richtig verstanden?«. Wenn man so denkt, hat man vermutlich schon eine halbe Stunde Ballett verpasst. Mir ist es wichtig, vom Raum gefangen genommen zu werden. Für mich als visueller Mensch ist es das Ding. Da gucke ich jetzt zwei Stunden darauf. Dabei ist mir die musikalische Struktur wichtig, wie oft sich was verändert oder auch verändern muss, um am Leben zu bleiben. Der Raum stellt den Menschen auf der Bühne auch in eine Perspektive, macht ihn groß oder klein.
AD: Wir haben jetzt viel über deine Räume und deine Bühnenbilder gesprochen. Wie findest du deinen Zugang zu Stofflichkeit, zu Kostümbildern?
TM: Gerade für Ballett Kostüme zu machen ist eine besondere Arbeit, die irgendwo einschränkt. Es muss bewegbar, praktikabel sein. Schwere Kostüme im Tanz sind tatsächlich immer schwierig, es sei denn, es ist explizit gewollt. Ein Kostüm für den Tanz unterstreicht die Choreographie, muss das sogar tun. Ich gestalte meistens zuerst den Raum und dann die Kostüme, weil ich dann sehen kann, ob ich in Kontrast gehen möchte zum Raum, ob ich eine Farbe hineinbringen möchte, wie sich Charaktere weiterentwickeln können durch Umzüge.
AD: Das passt zu deinem Wunsch, Architekt werden zu wollen. So ein Haus muss auch eingerichtet werden und ein bisschen ist das mit Kostümen im Raum vielleicht ähnlich.
TM: So habe ich das noch nicht gesehen, aber das stimmt. Ganz selten arbeite ich nur als Bühnen- oder Kostümbildner. Aber das mache ich nicht so gern. Weil ich meinen Raum dann doch meistens anders kommentieren möchte.
AD: Ich möchte nochmal zurück zum kreativen Prozess. Kreative Menschen sollen idealerweise glückliche und zufriedene Menschen sein: Wie sieht denn dein perfekter Tag aus?
TM: Mein perfekter Tag … Ich habe gut geschlafen. Easy Breakfast. Es scheint die Sonne draußen. Ich habe schöne Musik an und fange langsam an zu entwerfen und zu machen. Wenn die Arbeit gut läuft, ist das für mich Entspannung. Dann koche ich, das ist meine Pause. Dann noch ein bisschen Sport und dann aufs Sofa mit meinem Mann – Otto Mika.