Das Leipziger Ballett startet die Saison 2023/24 mit Reflexionen zu einer Welt, visionären Gesellschaft, in der niemand ausgeschlossen wird

Hans Christian Andersens bekanntes Märchen vom »Mädchen mit den Schwefelhölzern« erzählt die Geschichte von einem übersehenen und zurückgelassenen Mädchen, das in aufflammenden Streichhölzern wärmende Visionen sieht. In einer dieser Visionen blickt sie durch ein hell erleuchtetes Fenster und sieht eine Familie an einem Tisch sitzen: essend, lachend und in anscheinend perfekt familiärer Harmonie – Sehnsucht gepackt um eine Holzplatte mit vier Beinen. Das Mädchen, das in Armut lebt und in der Fassung von Hans Christian Andersen auch als Waise beschrieben wird, sitzt nicht mit am Tisch – für sie gibt es keinen Platz, weder in einem Familienverbund noch innerhalb einer Gesellschaft, die keine Solidarität mit Kindern wie ihr zeigt. Ihre Not wird übersehen, trotz ihrer Unschuld an der Situation verurteilt und der Mangel an Empathie auf die Spitze getrieben, als Passanten und Passatinnen über ihren erfrorenen Körper steigen – ihre Hoffnung auf Licht, Nähe und Wärme blieb Wunschdenken in der Form aufflammender Streichhölzer.

In »Paradise Lost« wird David Langs Komposition »the little match girl passion« gemeinsam mit Joseph Haydns »Missa in angustiis« zur Inspiration für ein Ballett, das sich mit gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit auseinandersetzt: schwindender Zusammenhalt, Einsamkeit, Umweltkatastrophen, Kriege. Zwei Klangkosmen treffen aufeinander, um die Erfahrungen und Diskurse einer unsicheren Zeit auf emotionaler Ebene zu hinterfragen.
Die großen Themen einer Gesellschaft verhandeln und manifestieren sich in den Menschen, die sie erleben. Aber eben auch in Parlamenten, Vereinen, in Talkshows oder Medienunternehmen. Es sind diese Momente im Diskurs, für die relevant ist, wer mit (wem) am Tisch sitzt oder wer, auf Grund von Diskriminierungserfahrungen, rechtlichen oder sozialen Ausschlüssen, keinen Platz am Tisch bekommen hat.

Mario Schröders choreographische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen steht für die Tradition eines politischen, kritischen Verständnisses von Tanz und Theater, in das sich auch das Ballett »Der Grüne Tisch« von Kurt Jooss aus dem Jahr 1932 einordnen lässt. Der Verhandlungstisch als Ort von Macht und Ausschluss ist hier das zentrale Bühnenelement in einem sonst minimalistischen Bühnenbild: ein grüner Tisch, an dem eine Gruppe von Diplomaten in schwarzen Anzügen sitzt. Dieser Tisch wird symbolisch für politische Verhandlungen und Machtmissbrauch verwendet. Die Tänzerinnen und Tänzer tragen Masken, die anonymisieren, vielleicht aber auch Schutz bieten. Neben den Diplomaten taucht eine Gruppe, die im Libretto als Todestanzgruppe bezeichnet wird, auf, sowie Szenen, die ein Familienleben zeigen. Entscheidungsgewalt und individualisierte Erfahrung prallen aufeinander, so wie auch in »Paradise Lost« die Empfindungen eines Individuums in Kontrast zu gesamtgesellschaftlichen Erfahrungen gesetzt werden.

»Der Grüne Tisch« ist eines der bekanntesten Werke des deutschen Tänzers und Choreographen Kurt Jooss und wird oft als sein Meisterwerk angesehen. Es entstand in Zusammenarbeit mit dem deutschen Schriftsteller Ferdinand Bruckner, der das Libretto verfasste. Die Arbeit an diesem Stück fand in einer Zeit großer politischer und sozialer Umbrüche statt. Nur wenige Monate nach der Premiere ergriffen die Nationalsozialisten die Macht und erzwangen so das Ende der parlamentarischen Demokratie. Kurt Jooss und Ferdinand Bruckner thematisieren insbesondere die politische Instabilität, die Gewalt und das Leiden während der Zwischenkriegszeit und der Weltwirtschaftskrise. »Der Grüne Tisch« hebt die Grausamkeit des Krieges, die Machtlosigkeit der Menschen und die Notwendigkeit des Handelns hervor. Eine Verhandlung an einem grünen Tisch beschreibt eine Verhandlung auf neutralem Boden, aber auch eine bürokratische Entscheidung mit wenig Bezug zu Realität und Praxis. In Parlaments- und Sitzungszimmern in den Vereinigten Staaten, in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind grüne Tischdecken und Bezüge, Polster und Teppiche über die Jahre erhalten geblieben und stehen hoffentlich für bürokratische Entscheidungen, die einen Bezug zu Realität und Praxis aufweisen.

Als zweite Premiere der Spielzeit präsentiert das Leipziger Ballett Cayetano Sotos Arbeit »Peter I. Tschaikowski«. Das abstrakt biographische Ballett zeichnet ein einnehmendes Portrait eines Mannes, dessen Leben von Genie, Mut und Zerrissenheit geprägt war. In der Auseinandersetzung mit Peter Tschaikowskis Leben wirft Cayetano Soto einen Blick auf Identität, Diskriminierung und Teilhabe eines einzelnen Menschen, der zwar bekannt und gefeiert war und doch sein Leben nicht so leben konnte, wie er es wollte. In einer restriktiven, intoleranten Gesellschaft war Peter Tschaikowskis Begehren als homosexueller Mann der Grund für einen teilweisen Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben und für Spannungen im familiären Umfeld. Wenn man heute auf Tschaikowskis Werke, besonders »Schwanensee«, blickt, fällt es leicht, die inneren Konflikte, die Zerrissenheit, die das Verbergen seiner Homosexualität in ihm ausgelöst haben müssen, zu hören – den Schmerz in seiner Kunst wiederzufinden. Wer weiß, welche künstlerischen Kräfte Peter Tschaikowski hätte freisetzen können, wenn er authentisch leben und lieben hätte können …wenn für ihn ein Platz am Tisch frei gewesen wäre. Ob »Paradise Lost« oder »Peter I. Tschaikowski«: Das Leipziger Ballett startet mit eindringlichen Plädoyers für Menschlichkeit und Empathie in die Spielzeit 2023/24. Und mit dem Wunsch für eine Gesellschaft, in der alle einen Platz am Tisch haben.