»Warum Händel?« fragten wir Möchtegernvirtuosen im Jugendsinfonieorchester uns in den 1990er Jahren, wo wir uns doch mit einer Suite aus »Carmen« oder »Schwanensee« viel mehr gefordert fühlten und überhaupt keine Lust hatten auf – hüstel – den »Messias«! Mit inbrünstig-wobbelndem Vibrato durften wir dieses verstaubte Monument unter der zittrigen Leitung des betagten Maestro im Schneckentempo erforschen. »Warum Händel?«, fragte ich mich immer wieder. Bis mir Anne Sofie von Otter und Reinhard Goebel mit ihrer CD der »Marienkantaten« den Atem verschlugen – so schnell, so frisch, so wuchtig und doch so filigran – was für eine Musik! Bis der Dirigent Konrad Junghänel und der Regisseur und Bühnenzauberer Herbert Wernicke sich mit der »Theodora« oder »Alcina« als bis heute unverrückbare Musiktheaterstandards in mein Schülerabonnentenhirn einbrannten.
Und was für ein spannender Mensch Händel doch war! Ein echter Europäer. In Halle geboren kam er nach einer Grand Tour durch Italien nach England, wo er es als Immigrant bis zum Nationalhelden brachte, dem man als »Orpheus Britannicus« Denkmäler in öffentlichen Parks und im Allerheiligsten der Britischen Kultur, der Westminster Abbey, setzte.
Seine Musik erklingt bis heute zu Krönungen und royalen Beerdigungen, zu Massenveranstaltungen – und klingt sogar in der UEFA-Champions-League-Hymne nach. Im englischsprachigen Raum führt der »Messiah« bis heute die Statistiken an. Allein in der New Yorker Carnegie Hall wurde das Werk seit 1891 insgesamt 376-mal aufgeführt.
Händel war ein Sängerversteher par excellence, der in seiner Musik den größten Virtuosen der damaligen europäischen Welt den roten Teppich ausrollte und eben nur so viel in der Partitur notierte als gerade nötig, um der Magie der Stimme den angemessenen Raum zu geben. Händel hat mit seinen Oratorien eine Form geprägt, die Generationen von Komponisten beeinflussen sollte. Der Ausspruch »Händel ist der größte Komponist, der je gelebt hat. Ich würde mein Haupt entblößen und an seinem Grabe niederknien« ist von Ludwig van Beethoven überliefert. Mozart, Mendelssohn, Brahms haben ihrem Kollegen mit Bearbeitungen oder Variationen ihre Reverenz erwiesen.
Händel war ein streitbarer Geist, der sich mit Kollegen duellierte und auch mit Sängerinnen- und Sängerstars nicht gerade zimperlich umging. Er war ein schlauer Unternehmer, der seine Schäflein stets im Trockenen hatte, auch wenn mal eines seiner Unternehmen scheiterte.
Händel war ein empathischer Mensch und Freund, der mit seinem Freund Georg Philipp Telemann regelmäßig korrespondierte und ihm aus London Tulpenzwiebeln schickte und der seinen für damalige Verhältnisse immensen Nachlass seinen treuen Angestellten und einem Waisenhaus hinterließ. Heute wohnt er übrigens mit Jimi Hendrix unter einem musealen Dach.
In Deutschland gibt es traditionell enge Verbindungen zwischen den Händel- Gesellschaften Halle, Karlsruhe und Göttingen. Das Netzwerk der Händel- Forscher und -Enthusiasten umspannt aber längst den ganzen Erdkreis.
»Wird es Dir nicht langweilig, jahrelang nur mit einem Komponisten?« wurde ich hier und da von Freundinnen und Freunden oder Kollegen gefragt, als ich 2011 bei den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen mein Amt als Intendant antrat. Zwölf Jahre später, nach unzähligen Händel-Erlebnissen und auch in meiner neuen Funktion als Intendant der Oper Leipzig kann ich sagen: Nein! Mit Händel ist einem nie langweilig! Allenfalls mit Menschen, die seine Musik lust- oder lieblos aufführen. Mein Respekt vor Händel ist mit jedem Werk, das ich kennenlernen durfte, gewachsen. Denn wie kaum ein anderer Komponist versteht er Atmosphäre und vor allem das menschliche Gefühl.